29.05.2023

Machterhalt ist ein strapazierfähiger Kitt – auch in der Ampel

Oppositionsführer Friedrich Merz ist sich sicher: „Wenn die Koalitionsfraktionen sich weiter so verhalten wie gegenwärtig, dann ist diese Regierung am Ende.“ Die Wähler sind davon nicht so überzeugt. 50 Prozent der Bundesbürger gehen davon aus, dass die Ampelkoalition bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2025 durchhalten werde. 40 Prozent sind gegenteiliger Ansicht. Das ergab eine Forsa-Umfrage für RTL.

Beim CDU-Vorsitzenden Merz mag der Wunsch der Vater der Prognose sein. Die Annahme der Bürger, SPD, Grüne und FDP würden allen Streitigkeiten zum Trotz gemeinsam weiterregieren, scheint dagegen realistischer zu sein. Mögen in dem einst als Fortschrittskoalition angetretenen Bündnis auch die Fetzen fliegen, mögen sich vor allem FDP und Grüne fast täglich bekämpfen: Es gibt mindestens fünf Gründe, warum diese Koalition durchhält.

1. Angst vor Neuwahlen

Käme es zu einem Koalitionsbruch und Neuwahlen, müssten SPD, Grüne und FDP mit teilweise deutlichen Einbußen gegenüber dem Wahlergebnis von 2021 rechnen. Was aus Sicht der betroffenen Parteien noch wichtiger ist: Bei Neuwahlen verlöre die Ampel ihre Mehrheit. Neben den politischen Konsequenzen hätte das für zahlreiche Abgeordnete persönliche Folgen. Viele Mitglieder der drei Regierungsfraktionen würden ihre Mandate verlieren. Bei SPD und Grünen haben 2021 zudem viele junge Politiker erstmals ein Mandat errungen, die weder eine abgeschlossene Ausbildung noch nennenswerte berufliche Erfahrungen vorzuweisen haben. Ihr Traum von der Politik als Beruf wäre schnell ausgeträumt, ihre berufliche Zukunft ungewiss.

2. Keine Kanzlermehrheit in Sicht

Wenn eine Koalition zerbricht, muss es nicht zwingend zu Neuwahlen kommen. Der Bundestag kann mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums einen neuen Kanzler wählen. Dazu ist die absolute Mehrheit notwendig. Schwarz-Grün hätte diese Mehrheit nicht, Schwarz-Gelb erst recht nicht. Da keine der im Bundestag vertretenen Parteien – aus guten Gründen – mit der AfD koalieren will, blieben rechnerisch zwei Möglichkeiten: eine große Koalition unter Führung der SPD oder eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP.

3. Die CDU/CSU macht nicht Juniorpartner der SPD

Eine GroKo mit einem Kanzler Olaf Scholz (SPD) und einem Vizekanzler Friedrich Merz (CDU) könnte eine Lösung sein – aber nur auf dem Papier. Sollte die SPD dies versuchen, bekäme sie heftigen Gegenwind vom eigenen linken Flügel. Denn viele dieser Genossen fühlen sich an der Seite der Linkspartei – siehe Bremen – ungleich wohler als in einer Koalition mit der CDU/CSU. Zudem gäbe es bei einem Mitgliederentscheid für Rot-Schwarz innerhalb der SPD wohl keine Mehrheit. Ohnehin dürfte die Neigung der Union, die Kanzlerschaft von Olaf Scholz durch Eintritt in die Regierung zu retten, äußerst gering sein. Dafür hat Scholz seit Amtsantritt den langjährigen Koalitionspartner Union viel zu abschätzig behandelt. Ganz abgesehen von solchen Befindlichkeiten: Im Gegensatz zu den Ampelparteien brauchte die CDU/CSU Neuwahlen nicht zu fürchten.

4. Jamaika ist ferner denn je

Die offenkundigen Schwierigkeiten der Ampel bestehen in den zahlreichen Konflikten zwischen Freien Demokraten und Grünen. Kein neues Selfie könnte verdecken, dass diese beiden Parteien deutlich mehr trennt als eint.

Jamaika bedeutete jedoch, dass die Grünen weiterhin zusammen mit der FDP regierten – mit der CDU/CSU als stärkster Fraktion. Daran hätten die Grünen kein Interesse. Die Grünen leiden in der Ampel darunter, dass SPD und FDP häufig gemeinsame Sache machen. In einer Jamaika-Koalition drohte ihnen Ähnliches: dass Union und FDP häufig an einem Strang ziehen – gegen die Grünen.

5. Eine Minderheitsregierung ist nicht realistisch

Sollten die Grünen oder die Freien Demokraten die Ampel verlassen, bliebe eine rot-gelbe oder rot-grüne Minderheitsregierung im Amt. Ohne eine Tolerierung der CDU/CSU käme diese „kleine“ Koalition nicht weit. Aber warum sollte die Union eine Minderheitsregierung mit Scholz tolerieren? Dann wäre sie ein Juniorpartner ohne Ministerposten.

Folglich würde Rot-Grün oder Rot-Gelb schon am nächsten Bundeshaushalt scheitern. Dann müsste Kanzler Scholz zurücktreten oder die Vertrauensfrage stellen, um diese zu verlieren. Auf diese Weise wäre der Weg für Neuwahlen frei. Aber an denen haben – siehe oben – SPD, Grüne und FDP kein Interesse.

Persönliche Interessen nicht übersehen

Auch Politiker sind Menschen. Anzunehmen, sie dächten ständig nur an das Wohl des Landes, wäre naiv. Zu unterstellen, sie hätten nur die eigenen Interessen im Auge, wäre zynisch. Realistisch ist es, die Eigeninteressen der Politiker in alle Spekulationen miteinzubeziehen. Womit wir beim Materiellen wären. Anspruch auf Ministerpension hat nur, wer 4 (!) Jahre im Amt war. Da gingen bei einem Scheitern der Ampel einige Kabinettsneulinge in der Ampel leer aus.

Bei den Altersbezügen der Abgeordneten ist die Regelung großzügiger. Für jedes Jahr im Bundestag stehen einem MdB im Alter von 67 Jahren ca. 250 Euro an Altersbezügen zu – nach 4 Jahren also 1000 Euro pro Monat. Wer also jetzt nach zwei Jahren ausscheiden müsste, bei dem reduzierte sich die Summe im Alter auf 500 Euro im Monat.

Prognose: Die Ampel blinkt weiter

Nüchtern betrachtet, spricht alles in allem viel dafür, dass diese Koalition weitermacht. Die Bereitschaft von Wirtschaftsminister Robert Habeck, bei seinem Heizungsgesetz viel Ideologie herauszunehmen und mehr Rücksicht auf die Möglichkeiten der Bürger zu nehmen, ist ein Indiz dafür, dass die Grünen weiterhin regieren wollen.

Die FDP wird die Koalition ebenfalls nicht sprengen. Denn der Schuldige an einem Koalitionsbruch wird von den Wählern in der Regel nicht belohnt. Die SPD hat das geringste Interesse an einem Ende von Rot-Grün-Gelb, weil sie dann das Kanzleramt räumen müsste.

Die Ampel wird sich vor 2025 nicht selbst abschalten; sie wird sich bis dahin weiter durchwursteln. Denn alle drei Parteien eint der Wunsch nach Machterhalt. Und das ist ein sehr strapazierfähiger Kitt.

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 30. Mai 2023)


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