26.09.2021

FDP und Grüne sind jetzt die Kanzlermacher

Die Ära Merkel endet, wie sie vor 16 Jahren begann: Mit einem Fotofinish zwischen CDU/CSU und SPD. Mit zwei Unterschieden: Dieses Mal liegen die Sozialdemokraten wohl knapp vor der CDU. Aber die beiden einst großen Volksparteien sind inzwischen auf Mittelmaß geschrumpft.

Noch eine Parallele zu 2005: Beim Aufeinandertreffen der Spitzenkandidaten war noch unklar, ob es nicht noch zu kleineren Verschiebungen kommen könnte. Dann enden aber die Gemeinsamkeiten. Denn eines war 2021 ganz anders: Es gab keinen Gerhard Schröder, der sich mit Platz zwei nicht abfinden wollte und dementsprechend ruppig agierte.

Nein, am Sonntagabend waren alle Beteiligten vor allem um eines bemüht: keinen der potentiellen Koalitionspartner zu verprellen. Da aus gutem Grund niemand mit der AfD koalieren will und die Linke zu schwach ist, um Rot-Grün-Rot eine Mehrheit zu verschaffen, geht es in erster Linie um Ampel oder Jamaika. Deshalb müssen SPD und CDU/CSU sowohl die FDP als auch die Grünen für sich gewinnen, um auf die Kanzlermehrheit im Parlament zu kommen. Eine Neuauflage der Großen Koalition hat Armin Laschet jedenfalls ziemlich deutlich ausgeschlossen. Auch Markus Söder konnte Rot-Schwarz oder Schwarz-Rot nicht viel abgewinnen.

Baerbock macht Scholz keine Hoffnung

In dieser Lage haben die Grünen ebenso wie die FDP die Hand am Schlüssel fürs Kanzleramt. Christian Linder ließ, wie schon im Wahlkampf, eine Präferenz für eine Regierung mit Union und Grünen erkennen, schloss indes eine Ampel nicht aus. Schließlich regieren die Freien Demokraten in Rheinland-Pfalz in einer solchen Konstellation.

Auffällig war, wie zurückhaltend Annalena Baerbock agierte. Dass Olaf Scholz ihr als Kanzler lieber wäre, ist bekannt. Doch gab die gescheiterte Kanzlerkandidatin nicht den geringsten Hinweis, dass ein Zusammengehen der Grünen mit Union und FDP ausgeschlossen wäre. Bei der letzten TV-Runde vor der Wahl hatten Baerbock und Scholz noch heftig miteinander geflirtet. Nun musste Scholz erkennen, dass der Weg ins Kanzleramt trotz seines guten Ergebnisses an den Grünen scheitern kann. Dabei wird auch eine Rolle spielen, wo die Grünen ihren künftigen Platz im Parteiengefüge sehen – eher in der Mitte oder eher im linken Spektrum.

Das „Koch-Kellner-Modell“ hat ausgedient

Noch eines ist in dieser „Elefantenrunde“ klar geworden: FDP wie Grüne werden sich von den nur noch mittelgroßen Volksparteien nicht in das alte „Koch-Kellner-Modell“ zwängen lassen. Die beiden „Kleinen“ wären bei Jamaika wie in einer Ampel zusammen stärker als die jeweilige Kanzlerpartei. Da gibt man sich nicht mit der Rolle von Statisten zufrieden. Entsprechend selbstbewusst werden FDP und Grüne zunächst einmal miteinander reden. Das wird für CDU/CSU und SPD ein ganz neues Erlebnis: auf die kleineren Parteien und deren Vorschläge warten zu müssen.

Die Wähler haben ihre Stimme abgegeben. Aber einen Kanzler oder eine Kanzlerin haben sie nicht bestimmen können. Das müssen die Parteien bewerkstelligen. Die einen – SPD, Grüne und FDP – gehen gestärkt in diese zweifellos schwierigen Gespräche, die anderen – CDU und CSU – hingegen geschwächt. Aber keine Partei ist stark genug, dass die anderen nicht ohne und gegen sie regieren könnten. So besehen war es ein hoffnungsvolles Zeichen, dass die potentiellen Kanzler und die potentiellen Kanzlermacher schon zwei Stunden nach Schließen der Wahllokale sich nicht mehr als bissige Kämpfer präsentierten, sondern als verantwortungsbewusste Politiker. Die neuen Kräfteverhältnisse zwingen zu einem veränderten Verhalten – nicht das schlechteste Ergebnis dieser Wahl.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 26. September 2021)


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