09.04.2021

Das gelähmte Land

Im Kanzleramt sitzt eine Amtsinhaberin, die mit Blick auf das bevorstehende Ende ihrer Amtszeit sich nicht mehr um das Auf und Ab in Meinungsumfragen zu kümmern braucht. Sie könnte deshalb klar den Kurs vorgeben, ja sie müsste es sogar. Dabei kann die Kanzlerin darauf verweisen, dass sie seit Ausbruch der Pandemie meistens richtig lag. Angela Merkel hatte sich schon der zweiten Infektionswelle mit härteren Restriktionen entgegenstemmen wollen als manche Ministerpräsidenten im Wahlkampfmodus. Die deutlich ansteigenden Infektionszahlen bestätigen die Richtigkeit ihrer ursprünglichen Forderung nach einem Oster-Lockdown. Doch sie konnte sich nicht durchsetzen, entschuldigte sich sogar für ihr Konzept, das wohl manche Bürger verärgert, aber auch viele Infektionen verhindert hätte.

Merkel hat erkannt, dass das Neben- und teilweise Gegeneinander von Bund und Ländern (mit und ohne Landtagswahlen) entschlossenes Handeln nicht begünstigt. Ihr Ruf nach mehr Kompetenzen für den Bund ist deshalb richtig. Eine Reform des Infektionsschutzgesetzes, um dem Bund die Möglichkeit zu geben, Corona-Maßnahmen selbst zu verhängen, kann man jedoch nicht so nebenbei bei „Anne Will“ oder in einer Video-Schalte erledigen. Immerhin kommt jetzt endlich Bewegung in die Angelegenheit. Vielleicht ist es manchem Regierungschef sogar ganz lieb, wenn er bei unpopulären Maßnahmen künftig auf Berlin verweisen kann.

Politiker in der Endphase ihrer Karriere haben die Chance, ohne Rücksicht auf persönliche Umfragewerte und parteipolitische Folgen das Richtige konsequent zu verfolgen. Merkel taktiert aber auch in der Endphase ihrer Kanzlerschaft wie in der meisten Zeit seit 2005: eher zögerlich und abwartend, ohne Wumms. Zeitweise drängte sich seit dem Spätsommer der Eindruck auf, ihr genüge es vollauf, dass man im Nachhinein sagt, sie habe zwar Recht gehabt, aber leider nicht Recht bekommen.

Merkel befindet sich in der Rolle einer Lehrerin, die nur noch den Kopf schütteln kann, was sich in ihrer Klasse abspielt: Der eine spielt auf dem Handy, der andere döst vor sich hin, keiner hört zu und jeder macht, was er will. Plötzlich hat sich bei den Damen und Herren in den 16 Staatskanzleien die Meinung durchgesetzt, sich am kommenden Montag besser nicht – wie verabredet – zu treffen, als etwa harte Maßnahmen beschließen zu müssen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hält ein solches Treffen für überflüssig. Begründung: „Wir haben keinen Bedarf für neue Instrumente.“ Ihr niedersächsischer Kollege Stephan Weil (SPD) sieht in einem bundesweiten Lockdown sogar „kurzatmigen Aktionismus“. Denn die Lage in den Krankenhäusern seines Bundeslandes sei „entspannt“. Selbst wenn das – noch – der Fall sein sollte, ist es keine kluge Strategie, 25.464 Corona-Neuinfektionen an einem einzigen Tag ganz entspannt zur Kenntnis zu nehmen und zur Tagesordnung überzugehen. Ob Weil insgeheim darauf hofft, den Bürgern in Niedersachsen wäre Schönrednerei lieber als harte Fakten?

Kaum noch verstehen dürfte Merkel den Zick-Zack-Kurs ihres Parteifreundes Armin Laschet, den sie noch vor kurzem wegen der Nichtbeachtung der „Notbremse“ in seinem Bundesland Nordrhein-Westfalen öffentlich abwatschte. Seit Ostermontag versucht Laschet, den Konkurrenten aus Bayern, Markus Söder, als Spielführer des „Team Vorsicht“ abzulösen. Am liebsten hätte Laschet bereits in dieser Woche, neue Beschränkungen beschlossen, was bei der CDU wie bei den CDU-Ministerpräsidenten keine Begeisterung auslöste, bei den Regierungschefs der SPD erst recht nicht. Seitdem ist Laschet damit beschäftigt, sein Hin und Her als konsequente Politik darzustellen – freilich ohne Erfolg.

„Opposition ist Mist“, hatte einst der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering verkündet und seine Partei aufs Regieren programmiert. In der Tat: Es ist frustrierend, wenn man als Opposition viel vorschlagen und viel kritisieren, aber letztlich nichts entscheiden kann. Hat man es aber mit Regierenden zu tun hat, die in einer Krise wie der Corona-Pandemie offenbar über keine Strategie verfügen und sich stattdessen durchzuwursteln versuchen, die im Kompetenzgewirr von Bund und Ländern eher hilflos, ja fast gelähmt wirken, dann wird Opposition zur reinsten Wohlfühl-Kur.

Die Grünen jedenfalls genießen es geradezu, im Bund keine Verantwortung zu tragen. Sie weisen genüsslich auf Fehler der anderen hin, erfreuen sich guter Umfragezahlen und träumen vom Kanzleramt. Schließlich ist ihnen ein Kunststück der besonderen Art gelungen: Vergessen zu machen, dass sie in neun von 16 Bundesländern mitregieren – und dennoch irgendwie nicht dabei sind. Das muss man erst mal können.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 9. April 2021)


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