11.08.2020

Es gibt kein Grundrecht auf Anonymität

Ein persönliches Wort zuvor: Ich bin seit mehr als fünf Jahren auf Twitter aktiv, schätze das Medium als Ort öffentlicher Diskussion, scheue keine politische Auseinandersetzung, spitze gerne auch mal zu. Widerspruch und Gegenargumente stören mich nicht. Ja, manchmal lernt man auch dazu. Aber eines nervt mich immer mehr: Die wachsende Schar der anonymen Twitterer, die ihren Namen nicht zu nennen wagen, aber umso unerbittlicher auf andere einschlagen - polemisch, bösartig, diffamierend. Auf Twitter und in den anderen „sozialen Medien“ verwechseln immer mehr das Recht auf freie Meinungsäußerung mit einem nicht existierenden Grundrecht auf anonyme Beleidigung. Den Gesetzgeber stört das nicht. Ein Vorstoß von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, eine Verpflichtung zu Klarnamen einzuführen, fand keine Unterstützung. Von ganz links bis ganz rechts eint eine Allparteienkoalition die Angst vor einem „Shitstorm“, falls man den anonymen Feiglingen das Handwerk legen würde. Dem Einzelnen bleibt da nur eine Möglichkeit zur Notwehr: die Blockierfunktion.

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Das Internet ist Fluch und Segen zugleich: Segen, weil es die öffentliche Meinungsbildung demokratisiert hat. Die etablierten Medien sind nicht mehr die „Gatekeeper“, bestimmen nicht mehr, worüber öffentlich diskutiert und gestritten werden kann, darf und soll. Heute kann jeder, der will, ein Meinungsmacher, sein eigener Chefredakteur sein. Ganz unabhängig von seiner Funktion als Ort des frei zugänglichen Diskurses spielt das Netz zugleich eine unrühmliche Rolle.

Die sogenannten sozialen Medien räumen jedem Feigling die Möglichkeit ein, im Schutz der Anonymität seinem Judenhass, seiner Ausländerfeindlichkeit, seinen Verschwörungstheorien und ähnlichen kruden Vorstellungen freien Lauf zu lassen. Damit trägt es zu einer Verrohung der politischen Auseinandersetzung und einer Verwilderung der Sitten bei. Man muss sich nur kurz auf Twitter einloggen, um die Erfahrung zu machen: Je anonymer der Absender, umso übler meist der Inhalt. In den „sozialen Medien“ haben es anonyme Täter leichter als sonst, über politisch Andersdenkende Lügen zu verbreiten, sie zu diffamieren und auf das Übelste zu beleidigen. Da mutieren die sogenannten sozialen Medien ganz schnell zu asozialen.

Das Internet, eine Bühne für Antisemiten und Rassisten

Das Ärgerliche dabei: Selbst viele seriöse Medienhäuser lassen den anonymen Feiglingen weitgehend freie Bahn. Kein Printmedium würde anonyme Leserbriefe abdrucken. Bei ihren Internetauftritten erlauben dieselben Medien jedoch die Verwendung eines Pseudonyms. Dieses verhindert zwar nicht, dass der Autor im Fall staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen ausfindig gemacht werden kann, senkt aber die Hemmschwelle bei der Verbreitung von Hassbotschaften und Angriffen auf andere. Je schwieriger es nämlich ist, den Internet-Täter aufzuspüren, desto geringer dürfte die Neigung sein, rechtliche Mittel zu ergreifen.

Machen wir uns nichts vor: Das Netz spiegelt letztlich nur wider, dass es in diesem Land Antisemiten, Rassisten, Reichsbürger, Völkische, Rechts- wie Linksextremisten gibt. Aber das Internet erleichtert es diesen Minderheiten, im Schutz der Anonymität für ihre menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Ansichten zu werben. Ihre Resonanz nimmt zu, weil sie online viel mehr Menschen erreichen können, als das in den „alten“ Medien der Fall ist. Wo ein „Klarname“ gefordert ist, verlässt manchen „Revolutionär“ schnell der Mut. 

Das Grundgesetz kennt kein Grundrecht auf Anonymität   

Das Grundgesetz sichert jedem das Recht zu, seine Meinung frei und offen zu äußern – sofern er dabei nicht gegen Recht und Gesetz verstößt. Das Grundgesetz kennt aber kein Grundrecht auf Anonymität; es will sicher nicht Heimtücke und Feigheit schützen und erleichtern. Die Freiheit der Meinungsäußerung schließt nicht den Anspruch auf Anonymität ein.  

Technisch wäre es möglich, anonyme Stellungnahmen in den „sozialen Medien“ zu verhindern. Die Medienhäuser und Plattformbetreiber dürften nur nicht mehr online stellen, was nicht unter einem identifizierbaren Namen samt Adresse geschrieben worden ist. Ja, das würde „Traffic“ kosten – und damit auch Werbeerlöse im Internet. Aber es wäre ein Beitrag zur politischen Hygiene.  Schluss mit der Anonymität 

Natürlich würden Extremisten ebenso wie Kriminelle Mittel und Wege finden, sich unter „Fake-Adressen“ ins Netz einzuschleichen. Doch die Möglichkeit, Verbote zu umgehen, kann kein Grund sein, Verbote nicht auszusprechen und schon gar nicht, sie durch geeignete Maßnahmen auch durchzusetzen. Anderenfalls könnten wir ja auf das gesamte Strafrecht verzichten. 

Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass das Netz denen das Handwerk erleichtert, die von Anstand, Respekt und Fairness im politischen Meinungskampf nichts halten, die Diffamierung und Hetze bewusst als Waffen einsetzen. Das können sie umso besser, je sicherer sie vor Entdeckung sind. Anonymität im Netz ist ein Förderprogramm für die Gegner eines offenen, demokratischen Diskurses. Höchste Zeit, damit Schluss zu machen. 

(Veröffentlicht auf www.cicero.de am 9. August 2020)


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