07.04.2018

Achtundsechziger (2): Erfolgreicher Marsch durch die Institutionen.

Angeblich haben sie die bundesrepublikanische Gesellschaft grundlegend verändert, die Achtundsechziger, die vor rund 50 Jahren den Staat herausforderten und nicht weniger wollten als eine revolutionäre Umgestaltung der Nachkriegsrepublik. Das ist ihnen bekanntlich nicht gelungen. Die werktätigen Massen waren der Meinung, die langhaarigen Revoluzzer, die sich gerne als außerparlamentarische Opposition (APO) bezeichneten, sollten lieber etwas arbeiten, als den Umsturz der bestehenden Verhältnisse zu propagieren. So blieb sie aus, die viel beschworene Revolution, die den Kapitalismus samt dem politischen „Schweinesystem“ überwinden und in einem repressionsfreien, basisdemokratisch organisierten System mit paradiesischen Zügen münden sollte.

Das heißt nicht, dass die Achtundsechziger total erfolglos geblieben wären. Sie beförderten durchaus Entwicklungen hin zu mehr Demokratie, mehr Pluralismus und mehr Selbstbestimmung. In gewisser Weise kämpfte die Studentenbewegung für Ziele, die durchaus im Trend lagen. Man kann darüber streiten, ob die Achtundsechziger den Zeitgeist beflügelten oder eher ihn als Rückenwind nutzten. Doch zweifellos haben sie an gesellschaftlichen Veränderungen mitgewirkt und sie befördert.

Mehr Demokratie wagen

Das Motto von Willy Brandts erster Regierungserklärung von 1969 war auch eine Antwort auf die Studentenunruhen. Mehr Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger, mehr Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieben und Unternehmen, mehr Mitbestimmung an den Universitäten, mehr innerparteiliche Demokratie, mehr direkte Demokratie - diese studentischen Forderungen waren zum Teil deckungsgleich mit denen linksliberaler Kräfte.

Es war eine Zeit des Umbruchs, in der die Autorität von Spitzenpolitikern und Spitzenbeamten zunehmend in Frage gestellt wurde. Die Achtundsechziger wirkten teilweise als Katalysator, aber auch als Bremser, weil viele ihrer Forderungen schlichtweg illusorisch waren. Wer wollte schon an den Hochschulen - ernsthaft - eine Drittelparität, mit deren Hilfe die Studenten zusammen mit den Hausmeistern und Schreibkräften die Professoren überstimmen konnten?

Gleichwohl führt von den Mitbestimmungsforderungen von damals ein direkter Weg zu den Bürgerprotesten wie dem gegen „Stuttgart 21“. Wobei es eine bezeichnende Parallele gibt: Die Achtundsechziger agierten ebenso wie die „Stuttgart 21“-Gegner stets mit dem Anspruch, die Sprecher der Mehrheit zu sein. In Wirklichkeit waren sie nur die Lautsprecher von Minderheiten. Noch eine Parallele: Die APO war grundsätzlich immer dagegen. Die vielen Initiativen, die seitdem per Bürger- oder Volksentscheid Einfluss auf die Politik zu nehmen versuchen, wollen in neun von zehn Fällen etwas verhindern, ganz selten etwas positiv gestalten.

Neue Beziehung zwischen den Geschlechtern

Zum „Mythos 1968“ zählt die Behauptung, erst durch diese „Revolte“ wäre die Bundesrepublik sozusagen sexuell befreit worden, wären auch sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe möglich geworden und hätte der Sex auch dem Lustgewinn dienen dürfen und nicht nur der Fortpflanzung. Auch das gehört zur 1968-er Folklore. Beate Uhse hatte den Deutschen schon lange Spaß am Sex beigebracht, noch ehe Spätpubertierende von der sexuellen Befreiung schwadronierten - mit den schönen blanken Brüsten der Kommunardin Uschi Obermaier als Blickfang.

Richtig ist, dass die Studentenbewegung zu einer Neujustierung der Beziehung zwischen den Geschlechtern beigetragen hat. Die Ehe galt nicht länger als die einzige legitime Form des Zusammenlebens von Männern und Frauen. Zugleich trugen die Achtundsechziger dazu bei, dass das Verständnis für gleichgeschlechtliche Beziehungen wuchs, ebenso die Toleranz für andere Lebensformen.

Bei der Verklärung von 1968 wird freilich gerne verschwiegen, dass die große Strafrechtsreform von 1969 zwei Hürden für das, was viele „freie Liebe“ nannten, beiseite geräumt hatte: durch Änderungen beim Kuppeleiparagraphen (§ 180) sowie beim berüchtigten Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen zwischen Männern (§ 175). Beschlossen hatte das übrigens die Große Koalition unter dem als „Nazi“ geschmähten Kanzler Kiesinger von der CDU. Eine Wohnung an ein unverheiratetes Paar zu vermieten, war von da an nicht mehr verboten. Bei der Legalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen erwachsenen Männern war der Gesetzgeber freilich eher die Nachhut einer gesellschaftlichen Entwicklung. Schon lange hatten die Gerichte immer seltener Homosexuelle noch nach Paragraph 175 verurteilt.

Auch wenn die Achtundsechziger ständig von der „sexuellen Revolution“ redeten, so blieben ihre konkreten Erfolge sehr überschaubar. Konzedieren muss man ihnen, dass sie zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, zu einer Liberalisierung beigetragen haben. Auch durch ihre provokanten Formen des Protest, bei denen häufig barbusige Studentinnen für Aufmerksamkeit und Schlagzeilen sorgten.

Eine Pointe am Rande: Die „Revolutionäre“ hielten es für eine gesellschaftspolitische Großtat, dass Männer und Frauen gemeinsam die bis dahin nach Geschlechtern getrennten öffentlichen Saunen „stürmten“, um so angeblich schlimme Hindernisse für die Selbstentfaltung zu beseitigen. Dass Männlein und Weiblein danach gemeinsam nackt schwitzen konnten, galt als erfolgreicher Angriff auf die Prüderie der konservativen Spießer. Umso grotesker ist es, dass in die Jahre gekommene Altachtundsechziger sowie deren Nachkommen es inzwischen für einen Fortschritt halten, in öffentlichen Schwimmbädern sogenannte Frauentage anzusetzen, damit muslimische Frauen sich so spießig und rückständig verhalten können wie die Deutschen im Mief der frühen sechziger Jahre.

Frauenpower

Ach ja, für die Gleichberechtigung der Frau zogen die Aufmüpfigen ebenfalls in die Schlacht. Es ging freilich mehr um die Gleichberechtigung im Allgemeinen. Innerhalb der Studentenbewegung war dagegen die Hackordnung klar; Da gaben die Machos den Ton an. APO-Ikonen wie Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit dürfte die Stellung der Frau in der Gesellschaft nicht gerade brennend interessiert haben. Dass sich damals „Weiberräte“ bildeten, weil die Frauen sich selbst von den angeblich so fortschrittlichen männlichen Revoluzzern untergebuttert fühlten, spricht für sich.

Die vermeintlich emanzipierten Frauen taten, was sie auch ohne männlichen Beistand konnten: Sie verbrannten öffentlich ihre BHs und ließen fortan ihre Brüste unter möglichst luftigen Pullovern frei schwingen. Die Frage, ob das den weiblichen Teil der Menschheit weitergebracht hat, darf als offen gelten.

Als Erfolg der aufmüpfigen „Weiber“ ist festzuhalten, dass die Gleichstellung der Frau in den 1970er- und 1980er-Jahren auf der politischen Agenda nach vorn rückte. Die Grünen, ein Kind der APO, führten als erste Partei eine verbindliche Frauenquote ein. Die Vielzahl von Frauenbeauftragten in öffentlichen Einrichtungen und die Gleichstellungsbeauftragten in Unternehmen sind eine Folge der Kampagnen der späten sechziger Jahre. Dass der Genderwahn und die „Quoteritis“ einmal politisch als superkorrekt gelten würden, hätten sie die APO-Frauen kaum träumen lassen. Das weibliche Geschlecht als primäres Qualitätskriterium bei der Vergabe von Posten und Ämtern hat durchaus revolutionäre Züge.

Die unzähligen hauptamtlichen Frauenbeauftragten im öffentlichen Dienst hatten auch eine höchst praktische Konsequenz: Vielen linken Frauen eröffneten sich so ungeahnte Karriereperspektiven. Die Revolution belohnte so ihre Kinder, jedenfalls die weiblichen.

Marsch durch die Institutionen

Aus der von der APO angestrebten Revolution ist bekanntlich nichts geworden, mit der Beseitigung des „kapitalistischen Schweinesystems“ auch nichts. Richtig erfolgreich waren die Achtundsechziger dagegen bei ihrer Ersatzstrategie - dem Marsch durch die Institutionen. Die Idee dahinter war simpel: Wenn man das verhasste System nicht beseitigen kann, dann will man es wenigstens unterwandern und so von innen aushöhlen. Rein ins System und ran an die Posten, das klappte in drei Bereichen besonders gut - in den Medien, in der Justiz und im Bildungswesen. Der öffentliche Dienst war bei den Achtundsechzigern besonders beliebt. Garantierte das verhasste System doch sichere Arbeitsplätze, gute Einkommen und sehr gute Pensionen - ohne ausbeuterischen Stress.

In den Medien konnten die APO-Veteranen - mit und ohne K-Gruppen-Vergangenheit - mühelos vorankommen, weil sie als „kritische Linke“ sich keinen Fragen nach ihrer radikalen Vergangenheit stellen mussten. Sollte jemand formal gefehlt haben, weil er seinem linken „Gewissen“ folgte, war das kein Makel, sondern eher eine Auszeichnung.

Die Alt-Achtundsechziger sorgten in den Medien für eine Neudefinition journalistischer Kritik. Bis dahin galt als kritischer Journalismus, wenn die Medien distanziert an eine Sache herangingen, erst sorgfältig prüften, ehe sie öffentlich Kritik übten oder Vorwürfe erhoben. Unter dem Einfluss der APO-Veteranen wurde Kritik an sich zum Leitmotiv vieler Medien. Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen, Kritik am Wirtschaftssystem, Kritik am politischen System, Kritik an der weltweiten Unterdrückung, Kritik am Kolonialismus - die Dauerentrüstung und Dauerempörung wurde zum medialen Leitmotiv.

Natürlich nutzten die Alt-Achtundsechziger ihre Positionen, um das Meinungsklima zu beeinflussen. Ganz selbstverständlich wirkten sie bei der Verklärung an der von ihnen mitgestalteten, „revolutionären Vergangenheit“ mit. Ganz selbstverständlich verniedlichten sie den autoritären, undemokratischen Charakter der Studentenrevolte, den Einsatz von „Gewalt gegen Sachen“, der in der Mordserie der RAF mündete, den sexuellen Missbrauch von Kindern unter dem Banner sexueller Befreiung. Wer „1968“ nur aus den linksliberalen (privaten wie öffentlich-rechtlichen) Leitmedien kennt, betrachtet diese Zeit mit verklärtem Blick und schaut über ein paar Kollateralschäden großzügig hinweg.

Durch die Institutionen Justiz, Schulen und Hochschulen sind die Achtundsechziger ebenfalls marschiert - in großer Zahl und mit Erfolg. Die APO-Generation in der Justiz hat bewirkt, dass Arbeitgeber oder Vermieter vor allem an großstädtischen Gerichten in der ersten Instanz mehr oder weniger chancenlos sind. „Im Zweifel für die Ausgebeuteten“ lautet das Motto in vielen Arbeits- und Mietprozessen. Wer da als Arbeitgeber oder Vermieter obsiegen will, braucht einen langen Atem.

Noch deutlicher haben die APO-Veteranen ihre Spuren im Bildungswesen hinterlassen. Die Ablehnung, ja Verächtlichmachung des Leistungsprinzips hat viele Schüler und Studenten dazu verleitet, die eigene Selbstverwirklichung wichtiger zu nehmen als das Streben nach Wissen und Leistung. Bildungspolitiker aus der 68er-Generation bei SPD und Grünen haben zusätzlich dafür gesorgt, dass diejenigen Bundesländer bei allen schulischen Leistungsvergleichen besonders schlecht abschneiden, in denen der „Reformgeist“ von vor fünfzig Jahren noch immer weht und sich beim „Schreiben nach Gehör“ austoben darf.

Schlimme Erblast der Achtundsechziger

Im ersten Beitrag zum 50jährigen „Jubiläum“ von „1968“ wurde darauf hingewiesen, dass die Achtundsechziger bei der Verfolgung ihres zentralen Ziels, nämlich einer revolutionäre Umgestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, krachend gescheitert sind. In diesem Beitrag wurde dargestellt, dass die Studentenrevolte durchaus auch einiges erreicht hat - jedenfalls gemessen an ihren eigenen Maßstäben. Der dritte und letzte Teil wird sich mit der schlimmen Erblast der Achtundsechziger auseinandersetzen: dem Freund-Feind-Denken in der Politik, der Intoleranz gegenüber abweichender Meinungen und nicht zuletzt der Akzeptanz von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Der „Mythos von 1968“ ist also durchaus lebendig - auf abstoßende Weise.

Veröffentlicht auf www.tichyseinblick.de vom 7. April 2018.


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