23.11.2017

In Berlin herrscht Angst vor Neuwahlen

Keiner weiß, wie es in Berlin weitergeht. Kommt doch noch eine Große Koalition zustande, wagt die CDU/CSU eine Minderheitsregierung? Wenn ja: alleine, mit den Grünen oder mit der FDP? Oder kommt es zu Neuwahlen? Eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten wäre durchaus eine realistische Möglichkeit. Die relativ stärkste Partei stellt die Regierung und sucht sich für ihre Vorhaben jeweils eine Mehrheit. Warum soll bei uns geradewegs ins Chaos führen, was in anderen Ländern praktiziert wird?

In der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es unverändert große Schnittmengen zwischen CDU/CSU und SPD. Außerdem könnte eine Minderheitsregierung Merkel durchaus an dem anknüpfen, worauf Union, Grüne und FDP sich in den Jamaika-Sondierungen bereits weitgehend verständigt hatten. Dazu gehören bessere Leistungen für Familien, eine Beschränkung der Lohnnebenkosten auf 40 Prozent, Steuersenkungen für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, eine Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten, die Berücksichtigung von Härtefällen beim Familiennachzug. FDP und Grüne könnten dazu im Bundestag schlecht nein sagen mit der Begründung, man halte dies im Nachhinein alles für falsch. Auch könnte die FDP schwerlich einem deutlichen Abbau des Solidaritätszuschlags die Zustimmung verweigern, weil es für seine völlige Abschaffung keine Mehrheit gibt. Bei der Rente hatte die Union ohnehin angekündigt, eine Expertenkommission einzuberufen. Deren Ergebnisse könnten eine gute Basis für eine Entscheidung des Parlaments abgeben – mit welcher Mehrheit auch immer.

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Dazu wird es wohl nicht kommen, weil Angela Merkel und der CDU/CSU der Mut fehlt. Wahrscheinlicher ist, dass die amtierende Bundesregierung einfach weitermacht. Die SPD-Minister bleiben geschäftsführend im Amt, obwohl sie sich auf Parteiveranstaltungen als Oppositionspolitiker gebärden. Es gibt in der SPD-Fraktion nicht wenige, die durchaus zurück in die Große Koalition wollen. Ihr Kalkül: Der öffentliche Ruf nach einer in vollem Umfang handlungsfähigen Regierung werde spätestens im Frühjahr 2018 so laut, dass die Sozialdemokraten aus ihrer selbst gewählten Schmollecke heraus müssten. Der Dienst am Gemeinwohl hätte auch einen angenehmen Nebeneffekt: Die sozialdemokratischen „Überlebenden des 24. September“ hätten ihr Mandat bis Herbst 2021 sicher.

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Weil Neuwahlen nicht auszuschließen sind, schläft mindestens ein Drittel der 709 Mitglieder des Deutschen Bundestags derzeit unruhig, und zwar quer durch alle Parteien. Wer im Wahlkreis schlecht abgeschnitten hat, muss bei Neuwahlen befürchten, unter Umständen nicht abermals nominiert zu werden. Wer seinen Listenplatz nur mit Not und Mühe ergattert hat, kann nicht ausschließen, bei der Neuaufstellung auf einen höchst unsicheren Rang abzurutschen. Wer den Wahlkreis (ohne Absicherung auf der Liste) knapp gewonnen hat, weiß nicht, ob das erneut klappt. Da kommt keine Freude auf, sondern Angstschweiß.

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Die da rufen, „Wir haben keine Angst vor Neuwahlen“, sind in allen Parteien die Spitzenpolitiker mit sicherem Listenplatz und die Abgeordneten mit ganz sicheren Wahlkreisen. Sie wissen, dass sie Neuwahlen garantiert überleben würden. Im Parlament sitzen aber auch 62 MdBs, die ihr Mandat nicht dem Wählerwillen, sondern den Tücken eines für Normalbürger undurchschaubaren Wahl-„Systems“ verdanken. Diese 62 haben ein sogenanntes „Ausgleichsmandat“ erhalten. Das aber sind die wackeligsten Plätze unter der Reichstagskuppel. Sollte zum Beispiel die CSU in Bayern bei Neuwahlen um ein paar Prozentpunkte zulegen, würde die Zahl der Ausgleichsmandate schrumpfen. Das führte im Ergebnis dazu, dass SPD, Grüne, Linke, FDP und AfD selbst bei prozentual unverändertem Zweitstimmenanteil einen Teil ihrer Sitze verlören. Auch diese „Wackelkandidaten“ beten heimlich, es möge nicht zu Neuwahlen kommen.

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Bekanntlich ist in der Politik alles möglich – und selbst das Gegenteil davon. Deshalb sollte man nicht sein gesamtes Hab und Gut darauf verwetten, dass die Bürger abermals zur Wahlurne gebeten werden. Im Lichte der gescheiterten Jamaika-Sondierungen, dem Neuwahlen-Poker der FDP und der Sehnsucht der SPD nach einer politischen Existenz ohne Verantwortung, also in der Opposition, können die Kombattanten aber nicht einfach die übrig gebliebenen Plakate erneut kleben. Nein, sie werden neue Slogans brauchen. Darüber kann man nicht früh genug nachdenken. Hier ein paar Vorschläge, wie die Parteien sich dem Wähler bei einer Bundestagswahl 2018 präsentieren könnten:

•   „Für eine Regierung, in der wir gut und gerne bleiben – CDU“ #feridwgugb
•   „Zeit für mehr Opposition – SPD“
•   „Zukunft wird mit Mut(ti) gemacht – Die Grünen“
•   „FDP first. Regieren second.“
•   „(Keine) Lust aufs Regieren – Die Linke“
•   „Neue Querelen? Machen wir selber. AfD“

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Wahlkämpfe enden am Wahltag um 18.00 Uhr. Der nächste Wahlkampf beginnt dann pünktlich um 18:01 Uhr. So war das immer – aber nicht immer so heftig wie nach dem 24. September 2017.

Veröffentlicht auf www.cicero.de am 23. November 2017.


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