13.10.2017

Ein Ergebnis wie ein Erdbeben

Aus Sicht der Union kann man das Ergebnis der Bundestagswahl rundum positiv bewerten: Die CDU/CSU ist die mit Abstand stärkste Kraft, der Vorsprung vor der SPD ist mit mehr als 12 Prozentpunkten beachtlich, 231 von 299 Wahlkreisen wurden direkt gewonnen. Vor allem aber kann gegen die Union nicht regiert werden. Also: Wahlziel erreicht. Oder um es mit Angela Merkel zu sagen: "Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten."

Man kann das Abschneiden der Union jedoch ganz anders sehen. Die 32,9 Prozent sind das zweitschlechteste Ergebnis aller Zeiten, liegen noch unter den 35,1 Prozent bei der Abwahl Helmut Kohls im Jahr 1998. Auch der Verlust ist jetzt mit 8,6 Prozentpunkten noch größer als die 6,3 Prozent von damals. Vor allem aber: Das Postulat von Franz Josef Strauß – „Es darf rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Gruppierung von politischer Relevanz geben“ – ist von Helmut Kohl und Edmund Stoiber noch befolgt worden. Unter Angela Merkel ist das nur noch ein frommer Wunsch: Mit der AfD zieht zum ersten Mal seit den 1950er-Jahren eine Partei in den Bundestag ein, die von Nationalkonservativen, Rechtspopulisten, Rechtsradikalen und Wutbürgern jeglicher Couleur gewählt wurde.

Über unsere politische Landschaft ist eben nicht einfach ein Sturm hinweggefegt; da wurden nicht nur ein paar kleine Bäume umgeknickt. Nein, am 24. September hat aufgrund tektonischer Verschiebungen die Erde gebebt. Die Schadensbilanz ist beträchtlich, nicht nur bei der CDU/CSU. Auch die SPD hat mit 20,5 Prozent schlechter abgeschnitten als jemals zuvor in der Nachkriegszeit. Mit 16,4 Prozent in Baden-Württemberg, 15,3 Prozent in Bayern oder 10,5 Prozent in Sachsen wird sie dem eigenen Anspruch, Volkspartei zu sein, kaum noch gerecht.

Die Ränder werden stärker

In gewisser Weise haben die Deutschen sich bei der Bundestagswahl an die politischen Lehrbücher gehalten. Durch Große Koalitionen, so die gängige Meinung, werden in Ermangelung einer echten Opposition die Ränder gestärkt. Das traf jetzt in erster Linie auf den rechten Rand zu. Die AfD konnte ihre Stimmen seit 2013 fast verdreifachen: von 4,7 auf 12,6 Prozent. Auch Die Linke legte zu: von 8,6 auf 9,2 Prozent. Macht zusammen 21,2 Prozent für zwei Parteien, die dieses Land nicht reformieren, sondern grundlegend umgestalten wollen. Den GroKo-Parteien sind dagegen von ihren 67 Prozent des Jahres 2013 noch rund 53 Prozent geblieben. So sieht ein Misstrauensvotum aus.

Die Union bekam vor allem die Quittung für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung Ende 2015. Der Verzicht auf jegliche Grenzkontrollen und der damit verbundene Kontrollverlust führten nur bei grün-roten Gutmenschen und dem Großteil der Medien zu einem Gefühl wohliger Selbstgerechtigkeit. Bei der großen Mehrheit, der arbeitenden Mitte, löste die staatliche Willkommenspolitik hingegen berechtigte Sorgen aus: Kann die Integration so vieler Zuwanderer in so kurzer Zeit gelingen? Wer soll das alles finanzieren? Und nicht zuletzt: Was bedeutet der Zustrom von so vielen Menschen aus fremden Kulturen für unsere Sicherheit?  

Um den Einfluss der Flüchtlingskrise auf das Wahlergebnis zu messen, muss man sich die Umfragezahlen vom September 2015 anschauen. Damals hatte „Allensbach“ 42,0 Prozent für die CDUCSU, 25,5 Prozent für die SPD und 3,5 Prozent für die AfD ermittelt. Dass die Kanzlerpartei zur Halbzeit der Legislaturperiode sogar noch etwas besser dastand als am Wahltag 2013, galt als sensationell gut. Doch von da an ging es für die Union bergab – und für die AfD bergauf. Schon im Januar 2016 – nach den massenhaften Silvester-Übergriffen von Köln – erreichten die Rechtspopulisten zweistellige Werte.

Nun hat die die Bundesregierung den Kurs in der Flüchtlingspolitik – nicht zuletzt unter dem Druck der CSU – grundlegend verändert. Im Wahlkampf versicherte die Kanzlerin immer wieder, eine Situation wie 2015 „kann, soll und darf es nie wieder geben.“ Aber das haben ihr viele Wähler nicht abgenommen, weil Merkel es einfach nicht fertig gebracht hat, einen Fehler einzugestehen – den Fehler nämlich, nach der Aufnahme der in Budapest gestrandeten Flüchtlinge nicht ein geordnetes , rechtsstaatliches Grenzregime eingerichtet zu haben. Merkels Beharren, alles richtig gemacht zu haben, hat ihr eigenes Versprechen des „nie wieder“ entwertet.

Die CDU hat die Konkurrenz unterschätzt

Nicht nur die Flüchtlingspolitik hat die Union viele Wähler gekostet. Es rächte sich zudem, dass Merkel die CDU immer mehr in Richtung linke Mitte bewegt hat. Allerdings hat sich die Partei in diese Richtung – euphorisch mit „moderne Großstadtpartei“ umschrieben – auch leicht drängen lassen. Von den Hausdemoskopen entsprechend beraten, ging man im Konrad-Adenauer-Haus felsenfest davon aus, die CDU würde mit ihrem Modernisierungskurs links der Mitte mehr gewinnen als rechts verlieren. Das führte zu einer sträflichen Fehleinschätzung der neuen Konkurrenz am rechten Rand. Die 4,7 Prozent der gerade einmal ein halbes Jahr alten AfD bei der Bundestagswahl 2013 wurden nicht als Warnsignal erkannt, sondern leichtfertig als Petitesse abgetan.

Wie falsch die CDU die AfD einschätze, machte Generalsekretär Peter Tauber deutlich, als er im September 2014 der AfD vorhersagte, sie könne „vielleicht noch in ein oder zwei Landtage einziehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie den Weg der Piraten gehen wird.“ Selbst nach einer Reihe spektakulärer AfD-Erfolge bei Landtagswahlen hielt Tauber an seinem falschen AfD-Piraten-Vergleich fest: Der Niedergang der AfD sei vorgezeichnet. Folglich machte in der CDU niemand Anstalten, energisch Wahlkampf gegen die AFD zu machen. Doch ließen sich die neuen Rechtsaußen nicht so einfach aussitzen. Folglich verlor die CDU/CSU an die angeblich so unbedeutende AfD 1,1 Millionen Stimmen, mehr als SPD, FDP, Linke und Grüne zusammen. Auch unter den 1,2 Millionen Nichtwählern, die am 24. September bei der AfD ihr Kreuz gemacht haben, dürften nicht wenige ehemalige CDU-Wähler gewesen sein, die aus Enttäuschung über die Merkel-CDU zwischenzeitlich gar nicht mehr gewählt hatten.

Wer das Unions-Ergebnis schön reden will, verweist darauf, die positiven Umfragewerte hätten potentielle Unionswähler eher eingelullt. Nicht wenige von ihnen sind auch der FDP-Parole auf den Leim gegangen, die den „Kampf um Platz drei“ angesichts des bereits feststehenden Sieges der CDU/CSU nutzte, um Unionswähler für sich zu gewinnen. Im Grunde müssen CDU und CSU sogar froh sein, dass den Freien Demokraten ein beeindruckendes Comeback gelungen und damit die bürgerliche Mitte gestärkt worden ist. Denn hätte die FDP den Sprung über die 5-Prozent-Hürde abermals verfehlt, hätte die CDU/CSU für alle Zeiten einen potentiellen Koalitionspartner verloren gehabt.

Die Flüchtlingspolitik hat in gewisser Weise das Land gespalten; sie war zusammen mit dem Thema Sicherheit, wie eine INSA-Untersuchung zeigt, für die Hälfte der Bürger das wahlentscheidende Thema. In der Endphase des Wahlkampfes spielten zunehmend auch soziale Fragen eine Rolle: die Zukunft der Arbeit im Zeichen zunehmender Digitalisierung, die Perspektiven der staatlichen Rente, Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, die Altenpflege und insbesondere der Zustand der Pflegeheime. Dies alles bewegte die Menschen nicht so stark, dass es zu einem enormen Zuwachs an Protestwählern geführt hatte. Aber es reichte aus, um die Zahl der Wut- und Protestwähler so stark anschwellen zu lassen, dass mit Ausnahme von Schwarz-Rot keine klassische Zweier-Koalition wie Schwarz-Gelb, Rot-Grün oder Rot-Gelb mehr möglich ist.

Wahlergebnisse sind nicht Ausdruck einer zufälligen Tages-Laune der Bürger. Sie bringen vielmehr zutage, was die Bevölkerung auch unterschwellig stört und besorgt. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist die Bundesrepublik kein in der Mitte gespaltenes Land: eine Hälfte so, und eine andere Hälfte so. Es gibt bei uns immer noch eine breite Mitte, die den beiden Volksparteien, der FDP und den Grünen ein gewisses Grundvertrauen entgegen bringt. Aber es gibt Abspaltungen links und rechts, mit klassenkämpferischem wie mit nationalistischem Unterton, und beide mit wachsender Tendenz. Die strukturkonservative Mittelstandsgesellschaft gibt es so nicht mehr; die ausgefransten Ränder sind ziemlich breit.

Der Union fehlt der Überbau

CDU und CSU leiden wie die SPD an dem Zerfall der ihnen nahstehenden Milieus. Mindestens ebenso negativ wirkt sich aus, dass die CDU/CSU nicht mehr einen „Überbau“ hat, der ihre Wähler trotz mancher Differenzen im Detail an sie binden. Diese Klammer bildeten einst das christliche Menschenbild, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft (mit großem „S“) und der entschiedene Kampf gegen Kommunismus und Sozialismus. Letzteres ist mit dem Fall des Eisernen Vorhangs entfallen, die Soziale Marktwirtschaft ist vom Grundsatz her kein Alleinstellungsmerkmal mehr und die Bindekraft des christlichen Menschenbildes hat deutlich nachgelassen.

Die CDU/CSU muss sich nicht neu erfinden. Aber sie muss neue Schwerpunkte setzen, wenn sie ihren Abwärtstrend bremsen will. Gerade in diesen unruhigen, weltweit von Umbrüchen gekennzeichneten Zeiten verlangen die Menschen nach Sicherheit, und zwar nach einer mehrdimensionalen Sicherheit:

- Äußere und innere Sicherheit, von sicheren Außengrenzen über den Kampf gegen Terrorismus bis zum Schutz vor Wohnungseinbrüchen.

- Sicherheit in der Arbeitswelt, was auch Frage einschließt, ob die eigenen Kinder in einem Deutschland 4.0 noch ein gutes Auskommen finden.

- Materielle Sicherheit, die neben einer fairen Entlohnung und einer auskömmlichen Altersversorgung auch eine auskömmliche Verzinsung der eigenen Ersparnisse umfasst.

- Soziale Sicherheit mit einer soliden, staatlichen Grundversorgung bei Gesundheit und Pflege.

- Und nicht zuletzt die Sicherheit, dass ihre weltoffene und tolerante Heimat ein „deutsches Deutschland“ bleibt.

Gerade in schwierigen, unübersichtlichen Zeiten ist die Nachfrage nach politischer Führung und einem klaren Kurs groß. Da könnte Politikern der C-Parteien ein Blick in die Bibel helfen: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.“

Veröffentlicht im „Bayernkurier“, Ausgabe 10/17, Oktober 2017.


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