16.09.2017

„Leitkultur? Steht doch alles im Grundgesetz!“ – „Nein. Warum haben wir denn so viele so viele nicht integrierte Zuwanderer?“

Marquardt: Ich muss noch mal auf ein Thema zurückkommen, das Ihnen sicher gefällt (grinst). Auch in der ARD-Wahlarena mit Angela Merkel kam es wieder vor: Es ging um Überfremdung und den drohenden Rückgang unserer Kultur. Reden wir doch mal über diese immer wieder thematisierte Leitkultur. Aus verschiedenen Gründen konnte ich ja mit dem Begriff noch nie etwas anfangen. Innenminister de Maizière hat es ja mal versucht, unter anderem mit "wir geben uns zur Begrüßung die Hand" zu umschreiben. Ich klopfe manchmal lieber auf den Tisch, im Norden sagen wir auch mal nur "Moin" und im Süden sagen sie eher "Grüß Gott". Also, was soll eine Leitkultur sein? Und selbst, wenn es sie gäbe, warum soll die unveränderbar sein? Leben nicht auch wir jetzt, so wie wir leben, weil es viele kulturelle Einflüsse seit Jahren und Jahrhunderten gibt?

Müller-Vogg: Das Thema ist ernster, als sie jetzt tun. Man kann eine Gesellschaft nicht nur mit Gesetzen zusammenhalten. Jede Gesellschaft braucht einen gewissen Grundkonsens über das, „was man tut“ und was nicht. Der der Ausländerfeindlichkeit unverdächtigte Bassam Tibi sprach schon vor fast zwei Jahrzehnten mit Blick auf die Zuwanderung von der Notwendigkeit einer „Europäischen Leitkultur“. Er versteht darunter einen Wertekonsens, der Folgendes beinhaltet: Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, Trennung von Religion und Politik, Demokratie, Pluralismus und Toleranz. Dabei muss klar sein: Auch Toleranz braucht Grenzen. Sonst müsste ich ja jede Form der Unterdrückung von Frauen bis hin zur Beschneidung von Mädchen als Respekt vor anderen Lebensweisen akzeptieren oder gar als Teil einer Multikulti-Idylle betrachten.

Marquardt: Ich meinte meinen Einwurf durchaus sehr ernst. Sie zitieren ja für eine Leitkultur tatsächlich nur das, was im Grundgesetz steht (lacht). Wie sieht es denn aber aus mit Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung? Und was definiert diese Vernunft, und wer entscheidet das? Der Marsch der sogenannten Lebensschützer, ist das nicht religiöse Offenbarung? Und wenn es die Trennung von Religion und Politik gibt, wieso wird dann in der Eidesformel die Möglichkeit der Bezugnahme auf Gott eröffnet? Demokratie und Pluralismus sind keine Kulturfragen, sondern unabänderliche Vorgaben des Grundgesetzes. Natürlich kennt auch meine Toleranz Grenzen, und doch haben wir alle viel zu wenig davon. Was ich nicht verstehe ist, warum Sie auf Multikulti-Idylle abstellen. Was meinen Sie in dem Zusammenhang damit?

Müller-Vogg: Um mit der Multikulti-Ideologie anzufangen, einem Begriff aus der alten Bundesrepublik. Damals schwärmten Grüne und Linke von einer Gesellschaft, in der es keinerlei staatlichen Anreiz oder Druck gibt, dass Zuwanderer aus anderen Kulturen sich an die deutschen Lebensgewohnheiten und Werte anpassen. Alle Ethnien sollten hier gleichberechtigt nebeneinander her leben können. Nicht Zuwanderer sollten sich anpassen, sondern allenfalls die Deutschen. Das Ideal: Deutschland als steuerfinanziertes Konglomerat von möglichst vielen Parallelgesellschaft. Als Bassam Tibi dem die Forderung nach einer „Europäischen Leitkultur“ entgegensetzte, wurde er von Links-Grün aufs Heftigste attackiert. Heute können wir ja in Neukölln oder Duisburg-Marxloh studieren, wohin „Multikulti“ führt. Ich will jetzt nicht auf die Kölner Silvesternacht verweisen; das entsprach ja nicht unserem Alltag. Aber wenn knapp die Hälfte der türkischen Einwanderer der ersten und zweiten Generation sagen, religiöse Gesetze hätten für sie persönlich Vorrang vor staatlichen Vorschriften, dann wird doch klar, dass hier etwas furchtbar schief gelaufen ist. Noch ein Satz zu dem „Marsch für das Leben“. Bei uns darf jeder für seine religiösen Ansichten demonstrieren, sofern er das ordentlich angemeldet hat – selbst konservative Christen. Das hat doch nichts mit dem Vorrang religiöser Offenbarung vor staatlichen Gesetzen zu tun. Aber gegenüber christlichen Abtreibungsgegnern scheint ihre Toleranzschwelle sehr niedrig zu sein.

Marquardt: Herr Müller-Vogg, jetzt gerät aber Einiges durcheinander. Wir wollten doch über Leitkultur reden und was diese ausmacht. Jetzt fangen sie mit dem Begriff Multikulti-Ideologie an. Wir sind uns ja einig, dass das Grundgesetz als verfassungsmäßige Ordnung für alle hier lebenden Menschen gilt. Was sind denn aber nun "deutschen Lebensgewohnheiten und Werte"? Und warum sollen nicht alle Ethnien hier gleichberechtigt neben- und miteinander leben können? Was sollen diese Parallelgesellschaften sein? Ich frage mal anders: Glauben Sie nicht, dass es diese schon jetzt gibt? Ein Treffen der Milliardäre sieht anders aus als ein Frühstück für Erwerbslose. Die Gespräche im Golfclub sind andere als die in der Obdachlosenunterkunft – auch wenn es sich nicht um verschiedene Ethnien handelt. Ich verstehe einfach Ihre Logik nicht, nach der Zuwanderung per se ein Problem ist. Und mich empört ernsthaft, wenn Sie jetzt bei der Debatte um Leitkultur, ich weiß immer noch nicht, was das ist, mit der Kölner Silvesternacht kommen. Nichts rechtfertigt, was da geschehen ist. Sexualisierte Gewalt selbst ist viel länger ein Problem. Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sexualdelikte in der weit übergroßen Mehrheit in Nähebeziehungen stattfinden. Bei uns ist Vergewaltigung in der Ehe als Vergewaltigung erst seit 1997 strafbar. Und um "Nein heißt Nein" gab es erhebliches Gezerre. Einig sind wir uns natürlich, dass jeder demonstrieren darf, solange von der Demonstration keine Straftaten ausgehen. Zum Glück kann man auch gegen Demonstrationen demonstrieren (zwinkert). Meine Toleranzschwelle hört da auf, wo religiöse Fanatiker, egal welcher Religion, mir vorschreiben wollen, wie ich zu leben habe.

Müller-Vogg: Sie halten offenbar „Gegendemonstrationen“ zur Verhinderung von genehmigten Demos, deren Ziele Ihnen missfallen, für in Ordnung. Das ist doch wenigstens mal eine klare Ansage. Ich halte dagegen Versuche, die öffentliche Äußerung missliebiger Meinungen zu unterbinden, für tendenziell totalitär. Das mache ich keinen Unterschied, ob die sogenannte Antifa die freie Meinungsäußerung unterbinden will oder die AfD. Zurück zum Thema „Leitkultur“. Wenn sehr viele Zuwanderer sagen, meine religiösen Gesetze sind für mich wichtiger als das, was der deutsche Staat verlangt, dann stört sie das offenbar nicht im Geringsten. Und das Nebeneinander von Reichen und Armen setzen Sie mit dem Nebeneinander von religiösen Fundamentalisten und aufgeklärten Demokraten gleich. Auch so kann man sich die Welt schönmalen. Leitkultur, das ist für mich eine Art Hausordnung. Und die haben auch die zu verinnerlichen, die neu dazu kommen – nicht nur die Alteingesessenen. Niemand muss bei uns Schweinefleisch essen. Aber wenn zum Beispiel in Schulen oder Kantinen kein Schweinefleisch mehr serviert werden darf, dann ist das nicht Ausdruck von Toleranz, sondern von multikulturellem Fanatismus. Wenn eine Frau bei Behörden oder Banken ihren Schleier nicht lüften will, dann braucht sie das nicht – sie darf aber auch nicht damit rechnen, bedient zu werden. Wenn Eltern ihre Töchter aus religiös-kulturellen Gründen von schulischen Aktivitäten ausschließen, dann gehören sie bestraft. Vielleicht sollten wir an den Grenzen große Schilder aufstellen: „Achtung! Sie betreten einen demokratischen Rechtsstaat. Unsere Regeln und Gesetze gelten für alle – ohne Ausnahme.“ Keine Angst, ist nicht ganz ernst gemeint (lacht).

Marquardt: Also, ich muss doch noch mal auf unser Ausgangsthema "Leitkultur" zurückkommen. Wir haben nämlich immer noch nicht geklärt, was das sein soll. Aber vorher noch was Anderes. Sie und ich schätzen Meinungsfreiheit, Demokratie und Pluralismus. Und selbstverständlich können Lebensschützer und andere demonstrieren. Wenn jedoch Menschen anderer Meinung nun ihr Missfallen darüber ausdrücken, ist das für mich keineswegs totalitär, sondern gelebte Meinungsfreiheit sowie gelebter Pluralismus. Aber zurück zum Thema „Leitkultur“. Sie meinen, es störe mich nicht im Geringsten, wenn "sehr viele Zuwanderer" sagen, meine religiösen Gesetze sind für mich wichtiger als das, was der deutsche Staat verlangt. Nun weiß ich nicht, wie Sie auf "sehr viele" kommen. Aber mich stört generell, wenn religiöse Gesetze über dem Grundgesetz stehen. Das gibt es aber eben nicht nur bei Zuwanderern, sondern zum Beispiel auch im kirchlichen (Sonder)Arbeitsrecht. Bei Ihnen läuft immer alles auf einen Konflikt mit Zugewanderten hinaus. Ganz ehrlich, das ist mir zu platt. Wenn für Sie die Leitkultur die Hausordnung ist, dann ist die Leitkultur ja das Grundgesetz. Dann verstehe ich nicht, warum Sie mir krampfhaft widersprechen (lacht). Das Grundgesetz gilt ganz klar für Alle und eben nicht nur für neu hinzukommende Menschen. Wenn in der Hausordnung steht, dass ab 22.00 Uhr Nachtruhe ist, wollen Sie doch auch, dass alle sich daran halten und nicht nur die Neumieter.

Müller-Vogg: Nochmal: Jeder darf im Rahmen der Verfassung demonstrieren – und wer will, kann auch Gegendemonstrationen organisieren. Totalitär wird es für mich, wenn „Gegendemonstranten“ das Ziel haben, eine genehmigte Demonstration zu verhindern. Das ist nicht „gelebte Meinungsfreiheit“, sondern links- oder rechtsradikaler Meinungsterror. Nochmals zur Leitkultur. Natürlich ist das Grundgesetz die Basis, aber es reicht nicht. Hier leben Hunderttausende, die formal integriert sind: Sie gehen einer Arbeit nach, schicken ihre Kinder zur Schule, achten Gesetze, zahlen ihre Steuern. So weit, so gut. Wenn jedoch ein muslimischer Familienvater seiner Frau jeden Kontakt mit deutschen Nachbarn untersagt, die Söhne für „wertvoller“ hält als die Töchter und diese zwingt, Kopftuch zu tragen, und ihnen jeden Kontakt mit männlichen Klassenkameraden verbietet, dann ist er eben kulturell nicht integriert. Der gebürtige Syrer und bekennende Muslim Bassam Tibi wusste schon, warum ihm die liberalen europäischen Verfassungen nicht ausreichten.

Cicero vom 16.09.2017


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