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„Schulz eiert bei der Koalitionsfrage herum.“ – „Es geht um Politik, nicht um Konstellationen.“
Müller-Vogg: Ich weiß ja nicht, was Sie sich vom TV-Duell erwartet hatten. Ich hatte gehofft, dass Martin Schulz in der Koalitionsfrage endlich mal klare Kante zeigt: Will er Rot-Rot-Grün oder will er das nicht? Aber er hat mal wieder herumgeeiert und gekniffen. Besonders amüsant war, als Schulz voll Abscheu und Empörung über Verhandlungen zwischen Verkehrsminister Dobrindt (CSU) und dem thüringischen Ministerpräsidenten Ramelow (Die Linke) berichtete. Ein CSU-Mann mit einem Linken! Man hatte fast den Eindruck, Schulz ekle sich vor seinen Koalitionspartnern in Thüringen, Brandenburg und Berlin (lacht). Das muss doch für Sie ein schrecklicher Abend gewesen sein, Angela Marquardt.
Marquardt: Es scheint ja, unterschiedliche Sichtweisen zu geben. Ich dachte es geht um die drängenden Probleme in diesem TV-Duell. Aber stattdessen haben die Moderatoren*innen eine Stunde lang Angst vor Geflüchteten thematisiert. Themen, wie soziale Gerechtigkeit, Investitionen in die Infrastruktur, der Klimawandel, die Bildungspolitik oder auch die Gestaltung der Digitalisierung spielten keine Rolle. Das hätte ich ehrlich gesagt spannender gefunden als Konstellationsfragen. Ich glaube, wir haben derzeit andere Probleme als Rot-Rot-Grün, wenn ich mir die Wahlprognosen ansehe.
Müller-Vogg: Ich halte mal fest: Auf die Weigerung Ihres Genossen Schulz, beim Thema Koalition Farbe zu bekennen, wollen Sie nicht eingehen. Okay. Es stört Sie auch nicht, dass Schulz schon Gespräche mit dem Linken-Ministerpräsidenten Ramelow, dem Chef einer rot-rot-grünen Koalition in Thüringen, für unanständig hält. Sie werden schon wissen, warum (grinst). Interessant ist auch: Sie kritisieren, dass darüber gesprochen wird, was die Menschen interessiert. Alle Umfragen zeigen: Das Thema Flüchtlinge/Integration/Zuwanderung interessiert weitaus mehr Menschen als Altersarmut oder soziale Gerechtigkeit. Weil aber Gutmenschen in jedem Zuwanderer eine Bereicherung sehen, wollen „die Guten“ nicht darüber reden, welche Ängste die unkontrollierte Zuwanderung gerade bei den sozial Schwächeren auslöst. Man kann es auch so sehen: Die Privilegierten empfehlen denen in prekären Verhältnissen, sie möchten doch bitte etwas verständnisvoller sein. Diese Art von elitärem Zynismus stößt mich ab.
Marquardt: Herr Müller-Vogg, offensichtlich wollen Sie nur noch über Konstellationen reden. Ich jedoch möchte über Politik reden. In meiner Wahrnehmung interessiert viele Menschen in erster Linie, wer wirklich grundlegende Veränderungen will. Dass ich fortschrittliche Politik mit einem rot-rot-grünen Bündnis verbinde, ist kein Geheimnis. Aber darum geht es im Moment nicht. Warum kommen Sie jetzt eigentlich mit dem vor allem von Pegida und AfD benutzten Begriff des Gutmenschen? Wer oder was sind dann Schlechtmenschen? Ich habe überhaupt nichts dagegen, über Zuwanderung und Geflüchtete zu reden, natürlich auch im Wahlkampf. Ich habe etwas dagegen, wenn dies in einem Gestus der Angst und Bedrohung passiert. Die Reaktionen auf das TV-Duell habe doch gezeigt:Tatsächlich interessiert Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich auch der Klimawandel, das Thema soziale Gerechtigkeit oder die Bildungspolitik. Im Übrigen häufig ohne Neid auf Geflüchtete, zu dem es auch kein Anlass gibt, den sie aber gerade den sozial Benachteiligten unterstellen. Ich finde dies zynisch und unfair diesen Menschen gegenüber, die es eh schon schwer haben.
Müller-Vogg: Natürlich sind Inhalte wichtig. Aber welche Inhalte nach einer Wahl umgesetzt werden können, hängt von der „Konstellation“ ab. Mich stört deshalb, dass alle relevanten Parteien ihre Wähler auffordern, ihnen ihre Stimme zu geben, aber partout nicht verraten wollen, für welche Koalition sie diese Stimme verwenden wollen. Da wird der Wahlschein zum Lottoschein. Immerhin schließen CDU/CSU und FDP jede Koalition mit der AfD und der Linken aus. Nun zu der Diskussion über Flüchtlinge. Der Begriff „Gutmensch“ wurde von selbst ernannten, politisch-korrekten Sprachpolizisten schon 2011 in die Liste der Unwörter aufgenommen. Schon deshalb benutze ich ihn oft und mit Vergnügen (lacht.) Die AfD wurde aber erst 2013 gegründet, Pegida Ende 2014. Ihr Versuch, mir eine rechtsradikale Wortwahl zu unterstellen, geht also ins Leere. Aber abgesehen davon: Sie werden doch nicht abstreiten wollen, dass gerade Menschen, die nicht so gut gestellt sind, in den Flüchtlingen oft Konkurrenten um bezahlbare Wohnungen oder Arbeitsplätze sehen. Aus gutem Grund pumpt die Große Koalition deshalb viel Geld in den sozialen Wohnungsbau. Aber sie können jemandem, der schon seit Jahren auf eine Sozialwohnung wartet, nicht glaubwürdig erklären, bisher wäre dafür kein Geld vorhanden gewesen, jetzt aber schon. Das fördert die Abneigung gegen solche Menschen, die bei uns Schutz und Zuflucht suchen und um die wir uns kümmern müssen.
Marquardt: Ich habe nicht davon gesprochen, dass Pegida und AfD das Wort "Gutmensch" erfunden haben, sondern, dass diese den Begriff vorwiegend verwenden. Der Begriff soll verunglimpfen und wird nun mal, auch wenn Sie dies natürlich nicht sind, heute vorwiegend von Rechtsradikalen benutzt. Benutzen Sie ihn doch einfach nicht mehr (zwinkert). So, aber wer mit wem koaliert, muss sich doch an Inhalten und an Wahlergebnissen entscheiden. Wir als SPD haben bekanntermaßen erhebliche Differenzen mit der CDU, wenn ich an Rente, Bildung oder Rüstungsexporte denke. Ebenso gibt es erhebliche Differenzen mit der Linken nicht nur in der Außenpolitik. Am Ende stehen in einer Koalition, solange wir Koalitionsverträge schließen, immer Kompromisse. Die Wähler*innen sollen aber das wählen, was ihnen inhaltlich am Nächsten steht. Was die Geflüchteten angeht, sollten wir uns einfach davor hüten, sie gegen diejenigen auszuspielen, die derzeit ebenfalls sozial ziemlich schlecht dastehen. Nicht die Geflüchteten sind das Problem, sondern das insbesondere die Union eine Umverteilung von Reichtum, eine gerechte Steuerpolitik und Investitionen, zum Beispiel im Wohnungsbau, verhindert.
Müller-Vogg: Gut, Sie wollen Reichtum umverteilen. Das nennt man Enteignung. Deshalb hat Martin Schulz es nicht gewagt, die Forderung nach einer Vermögenssteuer in sein Regierungsprogramm aufzunehmen. Beim Wohnungsbau hat die Große Koalition erhebliche Investitionen beschlossen. Was die CDU/CSU auf diesem Gebiet mal wieder verhindert haben soll, können Sie mir sicher erklären, oder? Und was eine „gerechte Steuerpolitik“ betrifft: Die massivsten Steuersenkungen für die „Reichen“ und für Kapitalgesellschaften hat im Jahr 2000 Rot-Grün beschlossen. Und wissen Sie was? Das Steueraufkommen war bei niedrigeren Steuersätzen bald darauf höher als vor der Reform. Der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt ist das zugutegekommen. Aber das ist halt ein Kernproblem von Euch Genossen: Die SPD weiß bis heute nicht, ob sie auf die insgesamt erfolgreiche „Agenda“-Politik stolz sein oder sich schämen soll. Aber das ist nicht mein Problem (lacht).
Marquardt: Enteignung wäre ja nach ihrer Einschätzung wohl dann auch jede Steuerzahlung (lacht). Wenn das oberste Fünftel 73% des Vermögens besitzen, wir beispielsweise Kinderarmut haben und viele Menschen von Transferleistungen leben, wo bleibt da die Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft? Sie sprechen die Steuerreform von 2000an. Ich finde: Fehler sind da, um korrigiert zu werden.
Veröffentlicht auf www.cicero.de am 8. September 2017.
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