28.09.2016

Bei der Bundespräsidentenwahl scheuen Schwarz, Rot und Grün eine Machtprobe

Nein, der deutsche Bundespräsident ist politisch nicht mächtig im Sinn des Wortes. Er kann Einfluss nehmen durch die Stichhaltigkeit des Arguments und die Macht der Rede. Er kann auch mal die Ausfertigung eines Gesetzes verzögern. Das war’s dann mehr oder weniger schon.

Gleichwohl ist die Wahl des Bundespräsidenten fast jedes Mal eine Machtprobe. Sie kündet von einer Wende wie 1969 und 2004. Ende der 1960er-Jahre bezeichnete der neue Mann an der Spitze des Staates, Gustav Heinemann (SPD), seinen knappen Wahlsieg im dritten Wahlgang als „ein Stück Machtwechsel.“ In der Tat: Ein halbes Jahr später ging die Ära der CDU-Kanzler zu Ende, Willy Brandt (SPD) zog ins Kanzleramt ein. 35 Jahre später, im Frühjahr 2014, erwies sich bei der Wahl von Horst Köhler (CDU), dass Rot-Grün keine Mehrheit mehr hatte; diese Koalition wurde dann auch 18 Monate später abgewählt.

Es liegt also auf der Hand, dass die Parteien von der Bundespräsidentenwahl im Februar 2017 gerne ein Signal aussenden würden. Allein: Die Mehrheitsverhältnisse erlauben das nicht und die Parteien, mit Ausnahme der Linken, sind sich überdies uneinig, welches Rauchzeichen denn mit Blick auf die Bundestagswahl über der Reichstagskuppel aufsteigen sollte. Lediglich die Linke würde, wenn sie denn könnte, mit der Wahl eines rot-rot-grünen Kandidaten gerne die Weichen für einen rot-rot-grünen Bundeskanzler stellen. Doch bei SPD und Grünen gibt es nicht nur Befürworter von „r2g“, sondern auch erbitterte Gegner.

Zu den Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung: SPD und CDU/CSU hätten rechnerisch eine große Mehrheit (ungefähr 930 von 1260 Stimmen), Schwarz-Grün käme auf knapp 690 und läge damit sicher über der in den ersten beiden Wahlgängen notwendigen absoluten Mehrheit von 631 Stimmen. Rot-Rot-Grün brauchte dagegen Stimmen von den Piraten, um eine Mehrheit zustande zu bringen. Alle diese Rechenspiele setzen freilich voraus, dass jede Partei ihre Wahlmänner und –frauen zu einer einheitlichen Stimmabgabe bewegen kann. Das ist in der Vergangenheit noch nie gelungen. In allen Fraktionen gibt es immer einige, die den Tag der Bundespräsidentenwahl zur Abrechnung mit der eigenen Partei nutzen und deshalb anders wählen, als von ihnen erwartet wird.

Selbst wenn wir unterstellen, die Parteiführungen könnten mit 100 Prozent loyalen Gefolgsleuten rechnen, so bleibt doch die Frage, wie ein erfolgreicher Ausgang die Entscheidung der Wähler bei der Bundestagswahl beeinflussen könnte. Im Fall eines schwarz-roten Gemeinschaftskandidaten könnten Union und SPD erzählen, was sie wollten: Es wäre eine Weichenstellung für eine Neuauflage der GroKo. Dasselbe gälte auch für einen schwarz-grünen oder einen rot-rot-grünen Präsidenten – der Wahlkampf wäre damit vorgeprägt. Keiner der Beteiligten könnte noch von einer „offenen Koalitionsfrage“ sprechen. Sollten SPD, Grüne und Linke im dritten Wahlgang jedoch mit ihrem „Projekt“ scheitern, gingen sie schwer angeschlagen und chancenlos in die Bundestagswahl.

Die Linke scheint dennoch bereit zu sein, das Experiment zu wagen; sie hat ohnehin am wenigsten zu verlieren. Ein „r2g“-Kandidat dürfte jedoch an den Grünen scheitern, ebenso wie das in Teilen der CDU erwogene Experiment mit einem schwarz-grünen Präsidenten oder einer Präsidentin an der CSU. Denn der linke Flügel der Grünen hat mit der CSU eines gemein: Beide wollen einen Teil ihrer Wähler bei der Bundestagswahl nicht durch die Aussicht auf eine schwarz-grüne Bundesregierung vergraulen. Das heißt nicht, dass eine schwarz-grüne Bundesregierung schon heute ausgeschlossen werden könnte. Aber vor der Wahl wollen die Grüne alle potentiellen Wähler bei der Stange halten – die Gegner von „r2g“ und Schwarz-Grün wie die Befürworter. Dasselbe gilt bei der CSU wegen ihrer Anhänger wie Gegner von Schwarz-Grün.

In der allergrößten Not ist der Mittelweg deshalb nicht zwangsweise der Tod, sondern kann sogar die Rettung bedeuten. Falls sich Union, SPD und Grüne – wie bei der Wahl von Joachim Gauck – auf einen gemeinsamen, parteifernen Mann oder eine politisch nicht gebundene Frau einigen, ginge davon kein Signal für die Bundestagswahl aus. Nicht ausgeschlossen ist auch das dieses Szenario: Die Große Koalition einigt sich auf einen gemeinsamen Kandidaten und die Grünen gehen mit einem „Zählkandidaten“ ins Rennen. Das wäre dann wahrscheinlich eine Frau oder ein Mann mit Migrationshintergrund. Er oder sie hätte zwar keine Chance. Aber die Grünen könnten sich so als Alternative zur GroKo präsentieren.

Ob wir also ein schwarz-rot-grünes oder schwarz-rotes Staatsoberhaupt bekommen: Keine der Parteien müsste als Verlierer in den Wahlkampf ziehen, wenn die große Machtprobe in der Bundesversammlung auf diese Weise abgewendet werden kann.

Veröffentlicht in „Tichys Einblick“ vom 28. September 2016.


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