16.11.2022

Beim Bürgergeld sind Kompromisse nötig – und möglich

Was ist aus Sicht der Ampel-Koalition vernünftiger: Unerbittlich an allen Einzelheiten des neuen Bürgergeld-Konzepts festzuhalten und endgültig im Bundesrat zu scheitern? Oder sich mit der Opposition und den von der CDU/CSU mitregierten Ländern auf einen Kompromiss zu einigen, um endlich Hartz-IV zu beerdigen?

Und was ist aus der Sicht von CDU und CSU vorteilhafter: Die eine oder andere Kröte zu schlucken oder die Reform scheitern zu lassen? Denn dann könnte die Union dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Hartz-IV-Empfänger zum 1. Januar 2023 nicht in den Genuss der geplanten Erhöhung ihrer Bezüge um 12 Prozent zu kommen. Sich nicht zu einigen wäre für beide Seiten schlechter, als sich irgendwie zusammenzuraufen. Dann wären nämlich alle Parteien die Verlierer – und „die Politik“ obendrein.

Es ist deshalb kein Wunder, dass sich vor Beginn der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat der Ton gemäßigt hat. Schließlich ist den Ampel-Parteien bewusst, dass die große Mehrheit der Bürger – allen Umfragen zufolge – das Bürgergeld-Konzept in der geplanten Form ablehnt. SPD, Grüne und FDP hätten folglich größte Mühe, selbst ihren eigenen Anhängern zu erklären, diese seien halt nicht kundig genug, um die wahren Vorzüge der Reform zu erkennen.

An zwei Punkten müssen sich Parteien aufeinander zubewegen

Es sind vor allem zwei Punkte, bei denen sich beide Seiten bewegen müssen: bei den Sanktionen und beim Schonvermögen. Bei Hartz-IV konnten die Job-Center Leistungen um bis zu 30 Prozent kürzen, wenn Arbeitslose sich weigerten, eine angebotene Stelle anzunehmen oder sich umschulen zu lassen. Beim Bürgergeld sollen während einer halbjährigen „Vertrauenszeit“ die Sanktionsmöglichkeiten nahezu wegfallen, um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern und die Bürokratie einzudämmen. Die Ampel-Parteien weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon in der Vergangenheit nur in zwei bis drei Prozent aller Fälle Sanktionen verhängt wurden.

Wenn schon bisher nur wenige Sanktionen verhängt wurden, bedeutet das nicht, dass die Möglichkeit der Leistungskürzung keine Wirkung zeigt. Es spricht nämlich viel dafür, dass mehr Leistungsbezieher sich einer Zusammenarbeit mit den Jobcentern verweigern würden, wenn keine Nachteile drohten. Es ist ja eine Tatsache, dass die allermeisten Autofahrer bei Rot anhalten, selbst wenn an einer Kreuzung weit und breit niemand zu sehen ist. Würde keine Strafe drohen, würden rote Ampeln zweifellos viel häufiger nicht beachtet.

Wer sparsam lebt, sollte nicht bestraft werden

Ein Kompromiss könnte so aussehen, dass es eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“ nicht gibt. Im Gegenzug könnten die Sanktionsmöglichkeiten so gestaffelt werden, dass Verstöße gegen die Mitwirkungspflichten in den ersten Monaten des Bürgergeldbezugs weniger stark geahndet werden als in späteren Zeiten.

Das ließ sich so begründen, dass so den Menschen mehr Zeit gegeben würde, sich in ihrer neuen, keineswegs einfachen Lage zurechtzufinden. Arbeitsverweigerer hingegen, die es durchaus gibt, bekämen in den ersten sechs Monaten keinen Freifahrtschein.

Beim sogenannten Schonvermögen muss es ebenfalls zu Abstrichen an den ursprünglichen Plänen kommen, wenn das Gesetz den Bundesrat passieren soll. Hinter dem Konzept des Schonvermögens steckt eine simple Überlegung: Wer viel Geld auf der hohen Kante hat, soll nach Auslaufen der regulären Arbeitslosenunterstützung (ALG I) erst einmal darauf zurückgreifen, ehe er die Hilfe der Allgemeinheit in Anspruch nimmt.

Zugleich soll nicht bestraft werden, wer während seines Arbeitslebens sparsam war und schon fürs Alter etwas zurückgelegt hat. Bei Hartz-IV blieben – je nach Lebensalter – Schonvermögen bis zu 60.300 Euro unangetastet.

Die Schongrenze ist zu hoch

Nach dem Gesetzentwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wäre es möglich, dass ein Familienvater mit zwei Kindern 150.000 Euro auf dem Konto hat, zwei Autos, ein Eigenheim mit einer Wohnfläche von 130 Quadratmetern oder eine Eigentumswohnung mit 120 Quadratmetern, dazu noch Verträge für Riester- oder Rürup-Renten – und dennoch Bürgergeld bekommt. Dieser Familienvater muss folglich in den ersten zwei Jahren des Bürgergeldbezugs nicht einen einzigen Euro seines stattlichen Vermögens zu seinem eigenen Lebensunterhalt beisteuern.

Über die Frage, bis zu welcher Höhe vorhandenes Vermögen geschont werden soll, lässt sich trefflich streiten. Das mittlere Geldvermögen liegt bei uns bei rund 17.000 Euro pro Person; in einer Familie mit vier Mitgliedern wären das – statistisch – 78.000 Euro. Die „Schongrenze“ von 150.000 Euro liegt also fast doppelt so hoch. Allerdings dürfte es nur wenige Arbeitslose geben, die mit 150.000 Euro auf der hohen Kante vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II, also Hartz-IV, wechseln müssen.

Schutz der Altersvorsorge im Interesse der Allgemeinheit

Solche Vermögen können aufgrund von Erbfällen vorhanden sein. Auch ist zu unterscheiden, ob der Bürgergeld-Empfänger lange berufstätig war oder nur für kurze Zeit. Relativ hohe Vermögen sind wohl bei Familien-Clans zu vermuten, also bei aus Einwanderern bestehenden Großfamilien, deren Mitglieder in Berlin oder anderen Metropolen bisweilen in Luxuskarossen bei der Arbeitsagentur vorfahren. Dass das Auto auf den Namen eines „Cousin“ zugelassen ist, soll häufig vorkommen. In diesen Fällen dürfte es besonders schwierig sein, die Quellen des Vermögens nachzuverfolgen.

Auch hier gibt es durchaus Möglichkeiten zum Kompromiss. So müsste das Schonvermögen insgesamt abgesenkt werden. Zugleich ließe sich der Freibetrag für die Vermögesteile erhöhen, der auf die Altersvorsorge ausgerichtet ist. Das gilt insbesondere für auf staatliche Unterstützung angewiesene Soloselbständige, die anders als ehemalige Arbeitnehmer keine Rentenansprüche haben. Der besondere Schutz der für die Altersvorsorge angesammelten Mittel ist sogar im Interesse der Allgemeinheit: Wer die Altersvorsorge vorzeitig aufzehrt und somit dem Staat aktuell Transferleistungen erspart, ist im Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Grundsicherung angewiesen, landet also wieder beim Staat.

Jeder Betrüger ist einer zu viel

Eines liegt auf der Hand: Wer, wie die Ampel es plant, auf die Vermögensüberprüfung in den ersten zwei Jahren des Leistungsbezugs mehr oder weniger ganz verzichtet, der öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Selbst bei einer geringen Zahl von „reichen“ Bürgergeldbeziehern ist jeder einzelne Fall einer zu viel. Was aber noch schlimmer wäre: Wenn solche Fälle öffentlich werden, fühlen sich Millionen von Steuerzahlern – zu Recht – vom Staat übervorteilt.

Regierung und Opposition sollten bei der Suche nach Kompromissen realistisch vorgehen. Weder sind alle Hilfeempfänger von dem Wunsch beseelt, sich stets ganz korrekt zu verhalten und staatliche Hilfe nur in Anspruch zu nehmen, wenn es gar nicht anders geht. Noch sind alle Hilfeempfänger potentielle Faulenzer, die sich mit allen möglichen Tricks auf Kosten der Steuerzahler ein bequemes Leben gönnen wollen.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Der Sozialstaat lebt – jenseits von Recht und Gesetz – von der Solidarität seiner Bürger. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Finanziers des Sozialstaats, also die Steuer- und Beitragszahler, müssen das Gefühl haben, dass sie nicht die Falschen unterstützen. Umgekehrt muss, wer staatliche Hilfe bezieht, selbst zur Gegenleistung bereit sein, indem er sich möglichst schnell von der „Stütze“ unabhängig zu machen versucht.

Soweit die Theorie. In der Realität freilich handeln die Menschen nicht immer so. Deshalb muss die Politik nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, nachhelfen – auch beim Bürgergeld.

(Veröffentlicht auf www.focus.de am 17. November 2022)


» Artikel kommentieren

Kommentare