13.04.2017

WhatsApp-Debatte: "Unsere Bundesregierung darf sich nicht länger von Erdogan erpressen lassen"

Gregor Gysi: Der Volksentscheid in der Türkei hat gravierende Bedeutung. Im Falle der geplanten Veränderung, entsteht eine Präsidialdespotie, die sich zu einer Diktatur entwickeln wird. 

Warum habe ich das Gefühl, dass auch wenn die Mehrheit die Verfassungsänderung ablehnt, die türkische Regierung das Gegenteil behaupten wird?

Hugo Müller-Vogg: Ich schließe Wahlmanipulationen ebenfalls nicht aus. Andererseits: Wenn Erdogan das Ergebnis einfach "frisieren" kann, warum macht seine AKP dann so einen intensiven Wahlkampf? 

Das Referendum erinnert an die Reichstagswahlen vom März 1933: Hitler war schon legal an der Macht, aber die anderen Parteien wurden massiv behindert, viele Kommunisten befanden sich in „Schutzhaft“. Mit einer freien Wahl hatte das nichts zu tun. 

Gysi: Ich finde, dass wir die Geschehnisse im so genannten Dritten Reich nicht mit anderen vergleichen sollten. Sie waren, sind und bleiben einzigartig. Ein leidenschaftlicher Kampf schließt Manipulationen allerdings nicht aus. 

Auch in der DDR wurde um jede Stimme gekämpft, obwohl das Ergebnis schon vorher feststand. Das Problem ist, dass Erdogan damit die Europäische Union und die NATO in eine extrem schwierige Situation bringt. Das weiß er ganz genau.

Müller-Vogg: Ich vergleiche den März 1933 mit der Situation in der Türkei - nicht zwölf Jahre Nazi-Barbarei! Ich fürchte, wir werden Zeuge, wie ein legal an die Macht gekommener Präsident die Demokratie abschafft. Doch selbst wenn Erdogan das gelingt, werden wir weiterhin mit ihm reden und verhandeln müssen. 

Gysi: Natürlich muss man weiter mit ihm reden und verhandeln. Das Gleiche gilt für viele andere Diktatoren. Aber die NATO-Mitgliedschaft ist an bestimmte Bedingungen gebunden. Die wird die Türkei danach nicht mehr erfüllen. 

Die EU und unsere Bundesregierung dürfen sich nicht länger von Erdogan erpressen lassen. Wir müssen andere Wege beschreiten. Die Beitrittsverhandlungen müssten ausgesetzt werden. 

Müller-Vogg: Wollen Sie ernsthaft, dass das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aufgekündigt wird? Dann würde Griechenland einen Ansturm von Flüchtlingen erleben, den es nicht aushält. Sollen die dann alle von Griechenland aus nach Deutschland ausgeflogen werden? 

Gysi: Auf jeden Fall dürfen wir uns von Erdogan nicht erpressen lassen. Wir müssen die Flüchtlinge gerecht in der EU verteilen. Außerdem müssen wir unverzüglich beginnen, die Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen. 

Wir brauchen einen Kompromiss zwischen den USA, Russland, Saudi-Arabien, Syrien und dem Iran. Nicht militärisch, sondern diplomatisch.

Die EU muss endlich aufhören, Lebensmittel so billig nach Afrika zu exportieren. Sonst kann keine afrikanische Landwirtschaft entstehen. Die Konzerne dürfen Saatgut nicht länger genmanipulieren und damit den Bauern und Bäuerinnen die Lebensgrundlage entziehen. 

Außerdem, Herr Müller-Vogg, wollen Sie tatsächlich und dauerhaft vom Präsidenten der Türkei abhängig sein? 

Müller-Vogg: Flüchtlinge gerecht verteilen? Scheitert leider daran, dass die meisten EU-Staaten nicht mitmachen. 

Fluchtursachen bekämpfen? Ja! Aber das dauert Jahrzehnte. Die afrikanische Landwirtschaft wieder produktiv sein lassen? Ja! Aber auch das geht leider nicht von heute auf morgen. 

Wir werden also weiterhin mit Erdogan leben müssen - genau wie mit Putin auch. 

Gysi: Klar, mit ihm leben müssen wir, aber wir müssen uns von ihm noch lange nicht erpressen lassen. Und überhaupt: Fluchtursachen lassen sich viel schneller bekämpfen, als Sie vielleicht denken. 

Wenn Polen und Ungarn keine Flüchtlinge aufnehmen, könnten die entsprechenden Kosten von der EU bei ihnen auch anderweitig abgesetzt werden. Immerhin erhalten beide Länder finanzielle Unterstützung. 

Was glauben Sie, wie schnell man dann eine Einigung erzielte? Hier muss die Politik mehr Kante zeigen und entsprechenden Druck ausüben. 

Müller-Vogg: Und wer genau soll das bitte tun? Deutschland ist in dieser Hinsicht ziemlich isoliert. 

Gysi: Deutschland hat sich isoliert, richtig. Die Aufkündigung der Solidarität mit Griechenland war ein schwerer Fehler. Statt Aufbau setzte Deutschland den wirtschaftlichen Abbau durch. 

Wir sind die großen Nutznießer des Euros und sorgen europaweit nicht für einen Ausgleich. Nicht einmal Schuldenerleichterungen wurden den betroffenen Ländern in Aussicht gestellt. 

Nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs bot man Deutschland den Marshallplan und einen Schuldenschnitt an. Heute verhalten wir uns komplett gegenteilig. 

Und um auf Erdogan zurückzukommen: Es gibt viele Länder die sein aggressives Verhalten stört. Mit denen müssen wir uns zusammenschließen. Oder wie sehen sie das? 

Müller-Vogg: Deutschland hat sich auf doppelte Weise isoliert. Erstens war die Bundesregierung nicht bereit, die deutschen Steuerzahler für die Misswirtschaft anderer Länder zahlen zu lassen, ohne dass diese Länder ihre Volkswirtschaften sanieren und reformieren.  

Zweitens hat unsere Flüchtlingspolitik der "offenen Tür" andere Länder entsetzt. Selbst die Skandinavier wurden schneller restriktiv als wir. 

Was Erdogan betrifft bin ich näher bei Ihrer Genossin Sahra Wagenknecht als Sie :) In diesem Sinne: Frohe Ostern, Herr Gysi!

Gysi: Vielen Dank und bis zum nächsten Mal.

Veröffentlicht am 13. April 2017 auf: http://www.huffingtonpost.de/gregor-gysi/turkei-erdogan-referendum_b_15983712.html?utm_hp_ref=germany


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