29.03.2017

Alterspräsident: Keine Garantie gegen Peinlichkeiten

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen galt: Die Alten sind die Erfahrenen, die Alten sind die Weisen. Deshalb wurde meistens der Älteste zum Häuptling bestimmt. Dazu passt, dass ein neugewählter Bundestag stets von einem Alterspräsidenten eröffnet wird – von seinem nach Lebensjahren ältesten Mitglied. So schreibt es die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags vor – jedenfalls bisher.

Die Liste der bisherigen Alterspräsidenten liest sich wie ein „Who is who“ der deutschen Politik: Paul Loebe, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Ludwig Erhard oder Herbert Wehner. Wie der Zufall so will, sorgte die Gnade der frühen Geburt bisweilen auch dafür, dass Bundestagsneulinge plötzlich am Rednerpult und im Mittelpunkt des Interesses standen. So 1994 der Schriftsteller Stefan Heym, der als Parteiloser für die PDS einen Ostberliner Wahlkreis gewonnen hatte. Oder vier Jahre später Fred Gebhard, ein zur PDS gewechselter hessischer SPD-Linker. Einmal stellte sich auch im Nachhinein heraus, dass das Geburtsdatum nicht automatisch zur richtigen Entscheidung führt. Der Liberale William Born, der 1969 die erste Sitzung des „Hohen Hauses“ leitete, entpuppte sich später als Stasi-Zuträger.

Wenig feierlich fiel 1994 die Begleitmusik aus, als Stefan Heym das Amt ausübte. Vor allem die CDU/CSU-Fraktion wollte sich nicht damit abfinden, dass ein gegenüber der DDR teilweise kritischer, gleichwohl regimetreuer und auf vielfältige Weise privilegierter PDS-Abgeordneter plötzlich der wichtigste Mann im Plenum war – wenn auch nur für wenige Stunden. Was viele Unionspolitiker besonders erbost hatte: Nach der Maueröffnung verspottete der DDR-Autor seine in den Westen strömenden Landsleute als schlichte Gemüter, die sich vom „Tinnef und Tand“ bei Woolworth und Aldi blenden ließen. (Dass Heym zu DDR-Zeiten das Vorrecht genossen hatte, regelmäßig die Feinkostabteilung des KaDeWe aufzusuchen, machte seinen Spott noch unerträglicher.)

So gab es vor der konstituierenden Sitzung des Bundestags eine Debatte über die Frage, ob Heym „würdig“ sei, die neue Wahlperiode zu eröffnen. Da die CDU/CSU ihn aber nicht daran hindern konnte, verweigerte ihm die Fraktion den Beifall; einige Fraktionsmitglieder verließen demonstrativ den Plenarsaal. Nur ein CDU-Mitglied spendete Heym Beifall: Rita Süßmuth. Der Skandal im Skandal: Heyms Rede wurde nicht wie üblich im amtlichen Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht. Alles in allem war das kein souveräner Umgang mit einem unerwünschten Alterspräsidenten.

Aber selbst ein langgedienter Parlamentarier ist, anders als Bundestagspräsident Norbert Lammert jetzt behauptet, keine Garantie für einen allgemein als würdig empfundenen Start in die Legislaturperiode. Nach der Bundestagswahl 2009 wurde dem Frankfurter CDU-Abgeordneten und ehemaligen Forschungsminister Heinz Riesenhuber die Ehre zuteil, den neu gewählten Bundestag zu eröffnen. Seine Rede geriet zu einer Mischung aus staatsmännischem Pathos und Polit-Kabarett. So erzählte Riesenhuber vom Befinden der Fische im Main. Früher seien dort viele Tote herumgeschwommen, erinnerte er sich. Heute seien die Fische im sauberen Wasser putzmunter, was den Anglern besser gefalle als den von ihnen Geangelten. Riesenhuber erklärte zudem das Waldsterben für beendet und berichtete, dass er Unternehmer regelmäßig frage: "Wann haben Sie Ihren Abgeordneten zum letzten Mal geknuddelt?"

Riesenhubers Auftritt sorgte für Stirnrunzeln und ungläubiges Kopfschütteln, nicht nur bei der Opposition, auch in den Reihen der CDU/CSU. "Er hat eine sehr eigene, sehr geniale Rhetorik", postete die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler, was wohl bewusst zweideutig gemeint war. Volker Beck war da deutlicher: "Wenn schon keine große Rede, dann wenigstens eine kuriose", twitterte der Grünen-Abgeordnete. Als Riesenhuber 2013 abermals als Alterspräsident an der Reihe war, hatte er dazugelernt. Da hielt er eine „normale“, also angemessene Rede. Womit wenigstens die These von der Weisheit des Alters zum Tragen kam.

Nun wird der Bundestag noch vor der Sommerpause mit einer CDU/CSU/SPD-Mehrheit beschließen, dass für den Alterspräsidenten nicht mehr das Lebensalter, sondern die Zugehörigkeit zum Bundestag ausschlaggebend ist. Das läuft dann im Herbst 2017 auf Wolfgang Schäuble zu, der seit 1972 dem Bundestag angehört, länger als jedes andere Mitglied. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine „Lex AfD“, um zu verhindern, dass ein Parlamentsneuling aus deren Reihen als Alterspräsident völkisches oder rechtsradikales Gebräu zum Besten gibt. Selbstverständlich streiten alle Befürworter der Neuregelung das ab. Und ebenso selbstverständlich wäre die neue Regel keine Garantie für – siehe Heym und Riesenhuber – künftige Peinlichkeiten. Eine Frage bleibt: Was passiert eigentlich, wenn eines fernen Tages einmal ein AfD-Parlamentarier der dienstälteste Abgeordnete sein sollte?

Veröffentlicht auf www.cicero.de am 29. März 2017.


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